Leseprobe «Sacred Sex– das intime Gebet»

Der gespaltene Eros

Auch im Zeitalter sexueller Aufklärung sind viele Menschen innerlich gespalten, wenn es um Sexualität geht. Autorin Vivian Dittmar zeigt in diesem Auszug aus ihrem Buch «Sacred Sex – Das intime Gebet», wie tief diese Spaltung ist, und welche weitreichenden Auswirkungen sie auf unsere Beziehungen und unser ganzes Leben hat.

Eros ist eine magische Kraft. Er ist wie Sternenstaub. Wenn Eros entsteht, legt sich ein Zauber über alles. Die Sinne schwinden uns und zugleich sind sie überwach. Die Luft scheint zu flirren, jede Berührung ist wie ein Tropfen in einem stillen See, lässt sanfte oder starke Wellen in alle Richtungen schlagen. Das ganze Universum verdichtet sich auf diesen Raum, diesen Moment, diese Kostbarkeit. Seine stärkste Kraft entfaltet Eros zweifellos im Zusammenspiel mit anderen. Doch die erste und
naheliegendste Spielwiese des Eros ist unser eigener Körper. Hier pulsiert er zwischen unserem Schoss und unserem Herzen. Der Schoss ist der Sitz des Triebes, der Herzraum im Brustbereich jener unserer Liebesfähigkeit. Nur wenn beide Pole lebendig und miteinander verbunden sind, kann das Spiel des Eros sich zwischen beiden entfalten.

Doch oft ist Eros gespalten. Die Ausgrenzung und Abspaltung der Sexualität, ihre Verbannung in dunkle Winkel, hat hohe Mauern und tiefe Gräben zwischen unseren Herzen und unseren Genitalien entstehen lassen. Oft fühlen wir uns wie zwei Menschen: das zivilisierte, asexuelle, moralisch korrekte Alltags-Ich und das animalische, schmutzige, sinnliche, hocherotische Sexual-Ich, die ohne jede Verbindung in uns nebeneinanderher leben. Diese Spaltung spiegelt sich auch in geschlechterspezifischen Archetypen, die uns alle prägen, weshalb ich ihnen im Folgenden nachspüren möchte.

Hure oder Heilige Jungfrau

Beginnen wir mit den weiblichen Archetypen. Mutter Maria, Sinnbild der Güte und bedingungslosen Liebe, Archetyp der mütterlichen Weiblichkeit, verkörpert ein Extrem. In ihrer jungfräulichen Empfängnis steckt eine starke Botschaft für alle Frauen des Abendlandes: Wenn du liebevoll, tugendhaft und rein sein möchtest, entsage deinem Trieb. Heute hat diese Botschaft für viele Frauen ihre Macht verloren. Stattdessen wird oft ihrem Gegenbild nachgeeifert: der Hure.

Dieser Archetyp ist lüstern und frei, wild und ungezügelt, dunkel und kraftvoll, schmutzig und unwiderstehlich. Sie lebt ihren Trieb ungehemmt, feiert ihre saftige Weiblichkeit mit wem und wann es ihr gefällt – doch die Geborgenheit, Sicherheit, Wertschätzung und Liebe, die Maria zuteil wird, bleiben ihr versagt. Sie ist, letztendlich, allein auf der Welt. Zartheit, Verletzlichkeit und Bedürftigkeit kann sie sich nicht leisten – genau wie der heiligen Jungfrau ihre Triebhaftigkeit versagt bleibt.

Auch heute empfinden viele Frauen sich hier gespalten. Das Schönheitsideal zielt immer noch auf Jugend ab, Spuren von Mutterschaft gelten als Makel. Die Erotik einer Schwangeren, einer Stillenden oder einer Gebärenden wird ausgeblendet. Viele Frauen erleben sich entweder in ihrer Rolle als Mutter oder als erotisches Wesen – selten als beides zugleich. So fehlt immer ein Teil ihrer Selbst. Ihr Grundkonflikt ist: Wenn ich meine Sexualität ganz lebe, verliere ich Kontakt mit meiner Verletzlichkeit, wenn ich meine nährende Mütterlichkeit ganz lebe, werde ich nicht begehrt.

Krieger oder liebevoller Vater

Bei Männern verhält es sich ganz ähnlich. Auch sie sind gespalten, bedingt durch unser gemeinsames kulturelles Erbe. Das Bild des Kriegers, der mit erhobener Lanze in die Schlacht reitet – oder sich mit erigiertem Penis die Frau seiner Wahl nimmt –, ist heute ambivalent. Zu stark ist inzwischen das Bewusstsein, welch ungeheure Zerstörungskraft diese Lanze birgt. Zugleich ist es jedoch genau dieser Krieger, in dem ein wichtiger Teil der männlichen Kraft steckt oder auch feststeckt. Und auf der anderen Seite die liebevolle, Raum gebende, stützende und haltende Qualität des Mannes: der Vater oder einfach nur der Liebende. Voller Hingabe kümmert er sich um Frau und Kind, Haus und Hof. Sein Anliegen ist es, alle gut versorgt zu wissen und vor allem in Sicherheit. Nie würde er jemandem etwas zuleide tun oder gar die Hand gegen einen Schwächeren erheben.

Diese innere Spaltung äussert sich bei vielen Männern direkt in der Sexualität. Ist der Mann stark mit seiner liebevollen Herzensqualität verbunden, dann hat er oft grosse Schwierigkeiten, seinen Trieb zuzulassen. Tief sitzt die Überzeugung, die Frau zu verletzen, wenn er ihm freien Lauf lassen würde. Und vielleicht stimmt das ja sogar – vor allem dann, wenn es nicht gelingt, zugleich den Kontakt mit der liebevollen Herzensqualität zu halten. Umgekehrt gibt es auch die Sorge, den eigenen Trieb gar nicht leben zu können, wenn eine starke Verbindung mit der eigenen Herzensqualität gegeben ist. Sehr anschaulich illustriert das ein Beitrag von einem User in einem einschlägigen Internetforum, in dem Freier sich über ihre Erfahrungen in Gang-Bangs austauschen.

Ein Gang-Bang bezeichnet in diesem Fall ein Event im Rotlichtmilieu, bei dem mehrere Männer mit einer Frau Sex haben. Dieser Verfasser erzählte von einem Event, wo laut seiner Aussage der Veranstalter erst sehr spät «etwas Anständiges zum Vögeln gebracht habe». Als sich dann alle auf die Frau stürzten, hätte sie «einem fast leidtun können – aber eben nur fast».¹ Die Grundüberzeugung lautet: Wenn ich empathisch bin, dann komme ich mit meinem Trieb nicht zum Zug.

Lange sind Männer diesem Dilemma damit begegnet, dass sie beide Anteile nur mit verschiedenen Frauen in unterschiedlichen Kontexten lebten – eine Strategie, die bis heute weitverbreitet ist. Zu Hause mit der eigenen Frau lebten sie den verantwortungsvollen, liebevollen Ehemann, ihre lustvolle Sexualität wurde auf Affären, Bordellbesuche oder, in jüngster Zeit zunehmend, das Fantasiereich der Pornografie beschränkt. So konnten zwar beide Aspekte gelebt werden, die Begegnung und Aussöhnung zwischen ihnen blieb jedoch aus. Diese Aussöhnung ist ein Prozess, der nicht von jetzt auf gleich geschieht. Die Prägungen, die diese Spaltung aufrechterhalten, haben sich über Jahrtausende in uns eingegraben. Doch eine liebevolle Bewusstwerdung dieser Spaltung ist der erste Schritt, um diese Anteile wieder miteinander in Kontakt zu bringen und damit die Voraussetzung dafür, dass wir in immer mehr Lebensbereichen unser ganzes Selbst (er)leben können.

¹ Amann, Melanie, Müller, Ann-Katrin: Der Placebo-Paragraf, Der Spiegel, Nr. 20 / 9.5.2015, S. 45.

Auszug aus:

Sacred Sex – Das intime Gebet,
Vivian Dittmar, edition est, 2016,
ISBN 978-3-940773-18-0
ISBN ebook 978-3-940773-08-1.

 

Buchtipp von Vivian Dittmar:

Ann-Marlene Henning: Make More Love – Ein Aufklärungsbuch für Erwachsene

Ob mit 45 oder 65, frisch verliebt oder in einer langjährigen Beziehung, Sex gehört für die meisten Menschen zu einem glücklichen Leben dazu. Hartnäckig hält sich aber das Vorurteil: Sex und Alter passen nicht zusammen. Alte Menschen haben keine Leidenschaften, keine erotischen Fantasien, keine heimlichen Affären. »Make More Love« soll mit Vorurteilen aufräumen, Mut machen, Neugier wecken, begleiten und Spaß machen.
ISBN: 978-3954030705

Bildnachweis: Der Gott der Liebe: Bei den Griechen hiess er Eros, die Römer nannten ihn Amor oder Cupido. Ölgemälde von Charles-André van Loo (1705-1761).

 

Von |2018-03-08T16:57:22+01:004. Februar 2018|Events|0 Kommentare

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